Donnerstag, Petra begleitete mich einen Teil der Wegstrecke. Sie wollte trainieren, um am allerletzten Tag der Pilgerreise auf dem Weg von Duderstadt nach Gerode dabei sein zu können. An diesem Morgen kam auch mein Freund Colin dazu.
Zunächst ging der Weg nach Wolfsburg, wo ich bei Colins Eltern eingeladen war und wo nach Berlin und Potsdam die erste Veranstaltung anstand (dazu mehr weiter unten).
Am Mittwoch machte ich mich am frühen Morgen auf in Richtung Voitze, ein kleines Dorf im Norden von Wolfsburg. Hier ist Petra zu Hause. Sie kam mir die halbe Strecke entgegen, so dass wir die letzten 10 Kilometer zusammen unterwegs sein konnten. Da wir uns sehr viel zu erzählen und noch mehr vorzubereiten hatten, war es dann wirklich mehr plauderndes Wandern als schweigendes Pilgern.
Das Friedensthema war plötzlich sehr präsent, als wir die alte innerdeutsche Grenze überqueren und in dem kleinen Freilichtmuseum an diesen unseligen Teil der deutschen Geschichte erinnert wurden, aber auch an eine der wenigen friedlichen Umwälzungen dieser Welt.
Dienstag – wohl mein bisher längster Wandertag – führte über weite Strecken durch ausgedehnte Wälder, meist mit schnurgeraden Forststraßen. Die einzige Überraschung: auf einem Kilometer liegen plötzlich 15 Stämme quer, um die mit dem Pilgerwagen nicht so leicht herum zu rangieren war.
Dennoch erreichte ich an diesem Tag rechtzeitig das evangelische Landes-Jugendzentrum in Kusey, wo ich mich sehr offen und warm begrüßt finde. Ich war dort dann ganz allein. Abendessen und Frühstück sind vorbereitet, ich kann es mir in Ruhe selber bereiten.
Nun bin ich 10 Tage unterwegs, es ist ein Drittel der Zeit um. Ich finde, dass sich das Thema unter dem ich unterwegs bin, in meinem Erleben spiegelt: Nicht nur äußerlich, so wie ich heute ungeplant an dem KZ-Mahnmal vorbei pilgerte oder das Schild an der Kirche bemerkte zum Thema „Frieden predigen“ oder eine Landschaft erlebe, in der der Unfrieden des Menschen mit der Natur sichtbar wird. Dieser Schmerz ist mir tagelang deutlich spürbar.
Auch in mir bin ich weniger im Frieden, als ich mir das erhofft und mit den Erfahrungen des letzten Pilgerns erwartet hatte. Das hängt auch mit dem großen inneren Thema zusammen, mit dem ich unterwegs bin. Dies erlebe ich natürlich besonders in den Zeiten, in denen ich allein unterwegs bin. Und wie gut und schön ist die Abwechslung, wenn ich Mit-Pilgernde habe und dadurch auch eine Auszeit in meinen eigenen Gedankenkreisen.
Der Start insgesamt war wunderbar. Der Aufbruch mit so vielen Menschen aus Berlin, das unerwartet schöne Wetter, die liebliche Landschaft aus Berlin heraus um Potsdam und bis Kloster Lehnin. Und ich war wunderbar begleitet. Der innere Prozess änderte sich mit der Landschaft, ab Lehnin habe ich die Landschaft verwüstet und menschenfeindlich erlebt. Am schlimmsten war der Regentag den Kanal entlang nach Genthin. Obwohl die Landschaft sich nur mäßig veränderte, hat mich die Begleitung durch Diana und Torsten über die nächsten zwei Tage dann wieder gut getragen. Es war wie ein Weg in die Osternacht hinein, in der heute eine Ahnung des neuen Lichts zu spüren ist – und neue Zuversicht.
Mein Pilgern soll ja den Ausbau des Kirchenraums in Gerode befördern, da finde ich es ein besonders interessantes Thema, wie sehr es mich erreicht, ob ein Kirchenraum mich einlässt, willkommen heißt oder ausschließt.
Es gab zwei besondere Glücksmomente, die mit der Offenheit dieser Räume zusammenhängen: in Kloster Lehnin, wo mir der Schlüssel für die verschlossene Kirche gegeben wurde und heute Kloster Neuenberg, wo – gegen jede Wahrscheinlichkeit – die einsame Kirche offen stand. Was das im Einzelnen zu bedeuten hat, ist mir noch nicht verständlich. Ich weiß aber mit Sicherheit, dass es eine sehr starke Bedeutung hat, die weniger mit der Kirche als Raum zu tun hat, als mit dem Erleben eines Friedensraumes in mir und der dazugehörigen Öffnung nach oben.
Der heutige Ostermontag beginnt wieder mit kalter Temperatur und strahlendem Sonnenschein. Nach einigen unangenehmen nächtlichen (inneren und äußeren) Ereignissen, die ich nicht ausbreiten möchte, bleibe ich erstmal „schlecht drauf“; ich bin mit meiner Kondition ganz und gar nicht zufrieden, vergleiche immer wieder die Erfahrungen des letzten Pilgerns mit den Tagen jetzt und und und…
Irgendwann beim Frühstück wendet sich das Blatt. Ein Schlüssel wird die radikale Annahme der vermeintlichen Schwäche:
Ich beschließe, nicht den ganzen Weg zu laufen, sondern suche mir einen Rundkurs um Gardelegen, den ich gut bewältigen zu können glaube, und lasse viele Vorstellungen, wie es doch richtig sein müsste, los. Es kommt – wie alle Eingebung -völlig „unangemeldet“.
Gardelegen, St Nikolai Kirche
Ich wähle Kloster Neuendorf auf der Karte, marschiere mit kleinem Gepäck los: Es wird ein wunderbarer Tag. An der menschenleeren Klosteranlage empfängt mich ein Schild: Kirche geöffnet!
Weiter bin ich unterwegs durch eine schöne Heidelandschaft, die ich hier ganz gewiss nicht erwarten würde. Im weichen Heidekraut kann ich ein Schläfchen in der Sonne machen.
Der Tag geht ganz anders zu Ende, als er begonnen hat. Ich bin sehr neugierig, ob es mir morgen gelingen wird, ebenso auf meine innere Befindlichkeit zu achten, sie zu respektieren und meinen Weg danach auszurichten.